30 x Viadrina & ich: „Die Grenzerfahrung hat mich darin bestärkt, die ENS fliegen zu lassen“

In der Reihe „30 x Viadrina & ich“ erzählt Prof. Dr. Jan-Hendrik Passoth, Professor für Techniksoziologie an der European New School of Digital Studies (ENS), wie sein Viadrina-Bewusstsein über viele Jahre wuchs und er die ENS in der Transformationsforschung ganz vorn sieht. Anlässlich von 30 Jahren Europa-Universität berichten 30 Menschen – vom Erstsemester bis zur emeritierten Professorin – welche Rolle die Viadrina in ihrem Leben spielt. 

Prof. Dr. Jan-Hendrik Passoths Weg an die Viadrina begann schleichend. Seinen ersten Fuß an die Oder setzte er im Wintersemester 2011/12. „Ich fand das ganz eindrucksvoll, dass man mitten in der Natur, die wilde Oder hinter sich, ein Seminar vorbespricht“, erzählt der Professor für Techniksoziologie an der European New School of Digital Studies (ENS). Auslöser für den Besuch war der ehemalige Viadrina-Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Andreas Reckwitz, der ihn dabei unterstütze, seine Habilitationsschrift zur ‚Soziologie der Umstände‘ an der Viadrina zu schreiben. „Über einige Jahre pendelte ich von München an die Oder und schrieb meine Arbeit bis 2016/2017 bei Andreas Reckwitz, Werner Rammert von der TU Berlin und Sabine Maasen von der TU München.“ Anschließend vertrat er die Professur für Kultursoziologie für ein halbes Jahr. Danach dachte er – auch aufgrund des Weggangs von Prof. Dr. Andreas Reckwitz – würden seine Bande zur Viadrina irgendwann gekappt. Doch dann kam die Idee mit der ENS.

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Professor für Techniksoziologie an der European New School of Digital Studies: Jan-Hendrik Passoth Foto: Sebastian Pape


Corona, Grenzschließung und European New School of Digital Studies

Sein zweites Ankommen 2020 war geprägt von Corona-Schutzmaßnahmen und der zeitweiligen Grenzschließung zwischen Deutschland und Polen. „Das hat das Ankommen ein wenig schwerer gemacht“, erzählt Jan-Hendrik Passoth. Einen Tag nach seiner Ernennung konnte er aufgrund der pandemiebedingten Grenzschließung für ein paar Monate nicht in sein Büro. „Vielleicht ist das mein besonderer Viadrina-Moment, in dem ich die Konsequenzen der Doppelstadt und der Grenze besonders gespürt habe. Ich hatte mich sehr darauf gefreut, an diesem Tag ins Collegium Polonicum zu gehen und mein Büro zu beziehen.“ Trotz Lockdown kam er schnell an der ENS an. „Das liegt an der Viadrina an sich, die einen wirklich gut aufnimmt und willkommen heißt. Und es liegt an ihrer Größe – daran, dass die Leute gut erreichbar sind und Interesse haben, mit einem in Kontakt zu treten.“

Die Viadrina als Gegenentwurf zur TU München

Den Alltag an der Technischen Universität München – seinem vorherigen Arbeitsgeber – beschreibt Jan-Hendrik Passoth als „sehr groß denkend und sehr technisch ausgerichtet mit einem starken sozialwissenschaftlichen Begleitprogramm. Im Forschungsalltag ist man aber eben auch nur eines von vielen Begleitprogrammen.“ Und die Viadrina – ist sie ein Gegenentwurf? „Die Viadrina hat viele Orte der Begegnung. Viele Kolleginnen und Kollegen treffe ich regelmäßig auf dem Campus oder in der Regionalbahn. Das macht den Austausch sehr einfach und schnell.“ Das besondere Zugpferd für Jan-Hendrik Passoth war allerdings die ENS: „Ich finde dieses Projekt unglaublich spannend, weil es mit verschiedenen Integrationsideen einzigartig ist. Diese Idee, reflexive Digitalforschung und -lehre auf der einen Seite zu machen und das mit einem europäischen Fokus und der deutsch-polnischen Kooperation zu verbinden. Dass Brandenburg sich das getraut hat, ist wirklich großartig, und zeugt davon, dass hier wirklich in die Hochschulen investiert wird und nicht nur in temporäre Forschungsprojekte.“

Lehre an der ENS: „Wir sind sehr studierendengetrieben“

„Wir denken unsere Studiengänge in Kohorten“, erklärt der Wissenschaftler. Die Teilnehmenden des Studienganges Master of Digital Entrepreneurship (MoDE) werden als Gemeinschaft jeweils eines Jahrganges verstanden, die gemeinsam an Projekten arbeitet. Vor der ersten Kohorte habe niemand gewusst, was auf die ENS zukommt. Die Teilnehmenden, Lehrenden und die Verwaltung füllen das Projekt mit Leben. Dabei gestalte sich alles als Lernprozess: „Wir sind jetzt schon durch die erste größere Studienreform durch, weil wir gemerkt haben, dass Dinge angepasst werden müssen. Wir sind sehr studierendengetrieben.“

Die Studierenden hat Passoth auch in seiner Lehre fest im Blick: „Ich bin niemand, der 90 Minuten vorträgt. Zwei Drittel der Veranstaltungszeit bestehen aus interaktiver Arbeit an den jeweiligen Themen.“ Im vergangenen Sommersemester leitete er einen Projektkurs in Kooperation mit dem Landesstudio des Rundfunk Berlin Brandenburg. Dabei wurden Formate für neue digitale Kommunikationsthemen aufgegriffen und ein erster Pilot erstellt. „Als ich noch junger Postdoc in Bielefeld war, gab ich immer rappelvolle Mediensoziologie-Veranstaltungen.“ Eine ähnliche Entwicklung sieht er heute bei den digitalen Themen. „Es ist ein ständig wachsendes Forschungs- und Arbeitsfeld. Daraus können wir sehr unterschiedliche Themen aufarbeiten.“

Gerade an der ENS seien alle sehr gut auf hybride Lehre eingestellt – auch weil einige der internationalen Studierenden durch Visaformalitäten nicht vor Ort sein können. „Man kann schlecht Digitalforschung machen und dann sagen: Wir machen jetzt nur analoge Lehre.“ Die wenigsten seiner Studierenden würden künftig in Berufen tätig sein, die rein analog sind. „Auf diese Berufsperspektiven bereiten wir gut vor“, sagt Jan-Hendrik Passoth.

Zur Rolle der Doppelstadt und Transformationsforschung

Wer an Digitalisierung denkt, denke meist sofort an Entwicklungen und Transformationen aus dem Silicon Valley und der Bay Area, so Passoth. Erst in den vergangenen Jahren habe sich der Blick weiter Richtung Europa und nach Osten geöffnet. „Das erlaubt uns heute unterschiedliche Transformationsfragen zusammenzubringen.“ Die digitale Transformation sei damit nicht allein gemeint, sondern im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Prozessen zu begreifen – etwa mit sozialökologischer und post-sozialistischer Transformation. Auf viele dieser Transformationsfelder habe die Forschung lange nicht geblickt – etwa die digitale Transformationsgeschichte in Europa. Die ENS, so Passoths Überzeugung, kann diese Lücke nach Osteuropa mit ihrer Forschung und Lehre schließen.

Dabei gebe es mehrere Herausforderungen: „Zwei Bürokratien zu überwinden ist nicht immer einfach, aber mit dem MoDE-Studiengang, der auf der deutschen und der polnischen Seite der Oder angesiedelt ist, entstehen auch neue Themen und Dimensionen“, sagt Jan-Hendrik Passoth. „Zum Beispiel der Anschluss an die starken, politik- und technikwissenschaftlichen Arbeiten an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań.“ Die ENS könne so einmal eine internationale Fakultät der Viadrina werden, sagt Jan-Hendrik Passoth. „Das wäre fantastisch für die Universität: eine Neuerung, die sehr notwendig ist für die institutionelle Strukturierung der Hochschullandschaft.“ Europäischer Studierendenaustausch könne einen festen Ort bekommen. Bereits jetzt ist es so, dass Studierende auf beiden Seiten der Oder leben und das Stadtleben mitgestalten.

Wie die ENS fliegen könnte

„Mit dem Lockdown und der Grenzschließung habe ich für mich die Erfahrung gesammelt, was es wirklich heißt, täglich Grenzarbeit zu leisten“, erklärt der ENS-Professor. Diese Erfahrungen haben Jan-Hendrik Passoth darin bestärkt, wie „man die ENS fliegen lassen könnte.“ Seine Vision: Die ENS wird in ein paar Jahren zu einem kleinen, internationalen Forschungs- und Lehrhub für soziotechnische Transformationsthemen. Das künftige „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“, als dessen Standort sich die Doppelstadt gerade bewirbt, sieht er dafür als große Chance. „Ich glaube, dass Frankfurt sehr gut geeignet wäre. Es wäre nicht nur für die räumliche Struktur vorteilhaft, es gäbe auch die Möglichkeit, europäische Transformation noch breiter anzugehen.“ Das sei ein Alleinstellungsmerkmal, für das die Viadrina immer gestanden habe und das sie jetzt wieder aufgreifen könne.

Für die Weiterentwicklung der Viadrina wünscht sich Jan-Hendrik Passoth „Mut, etwas anders zu sein, etwas auszuprobieren und das, was sie bereits verkörpert, stark zu machen. Für mich war die Viadrina immer ein Ort, an dem ungewöhnliche Menschen ungewöhnliche Dinge tun.“

(KH)

Dieser Text ist der 21. Teil der Serie „30 x Viadrina & ich“.
Die bereits erschienenen Beiträge können hier nachgelesen werden.
In den nächsten Beiträgen erzählen Englischlektor Michael Baldzikowski und Sophie Falsini, Absolventin des Masterstudienganges European Studies, von ihren Erfahrungen. Die Texte erscheinen jeweils in der Rubrik „30 Jahre Viadrina“ im Viadrina-Logbuch.

Steckbrief

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Name:
Jan-Hendrik Passoth

An der Viadrina bin ich:
seit Oktober 2020

Was ich hier mache:
Ich bin Professor für Techniksoziologie an der European New School of Digital Studies.

Die Viadrina ist für mich:
...ein Ort fürs Ungewöhnliche

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