Zwischen Flucht und Rückkehr – KIU-Stipendiatin Tetyana Panchenko erforscht Lebenswelt ukrainischer Geflüchteter in Deutschland
Während der Krieg in ihrem Heimatland andauert, forschen aktuell 20 ukrainische Wissenschaftler*innen gefördert durch das Stipendienprogramm vom Kompetenzverbund Interdisziplinäre Ukrainestudien (KIU) unter anderem an der Viadrina. Eine von ihnen ist Prof. Dr. Tetyana Panchenko, die seit drei Jahren zu ukrainischen Geflüchteten in Deutschland forscht. Sie interessiert sich dafür, mit welchen Vorstellungen sie nach Deutschland gekommen sind, wie die Integration verläuft und ob sie sich eine Rückkehr in die Ukraine vorstellen können.
„Ich gehe zurück, sobald der Krieg vorbei ist“, sagt eine damals 21-jährige Ukrainerin im Mai 2022; seit drei Monaten herrscht da der Krieg Russlands gegen ihr Heimatland, aus dem sie nach Deutschland geflüchtet ist. Knapp zwei Jahre später sagt dieselbe Frau im Interview: „Ich habe die Sehnsucht zurückzukehren, aber mit der Finanzkrise, zu vielen Waffen, traumatisierten Menschen, die aus dem Krieg zurückkehren, und unter denen ich mir einen künftigen Ehemann aussuchen soll … – Ich werde niemals in die Ukraine zurückkehren, in der ich glücklich war. Ich werde versuchen, mein Leben hier einzurichten.“ Diese zwei Aussagen und die Entwicklung zwischen ihnen sind ein Ausschnitt aus den vielen Einblicken, die die Politikwissenschaftlerin Tetyana Panchenko seit dem Frühjahr 2022 in die Lebenswelt ukrainischer Geflüchteter gewonnen hat. In fünf Wellen hat sie quantitative Online-Umfragen geführt, an denen jeweils bis zu 2.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland teilgenommen haben. Parallel dazu hat sie in zwei Runden qualitative Interviews geführt und so die Zahlen und Statistiken mit Beweggründen, persönlichen Geschichten und Hintergründen illustriert und vertieft.
Heide Fest
Das statistische Material aus den Online-Umfragen verdeutlicht Entwicklungen und Facetten, die bei der sonstigen Beschäftigung mit ukrainischen Geflüchteten oft untergehen. So kann Tetyana Panchenko aufzeigen, dass der Anteil von Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen, guten Sprachkenntnissen, sicheren wirtschaftlichen Verhältnissen und hochqualifizierten Jobs unter den Geflüchteten weit über dem Schnitt in der Ukraine liegt. Allerdings nimmt mit zunehmender Dauer des Krieges der Anteil von Menschen, die zu einer sozial vulnerablen Gruppe gehören, unter den nach Deutschland Geflüchteten zu.
Die Rückgewinnung von intellektuellem Kapital wird zur entscheidenen Frage für die Ukraine
Auch die Gedanken über eine mögliche Rückkehr in die Ukraine haben sich im Laufe der drei Kriegsjahre gewandelt. Sagten im Mai 2022 nur gut die Hälfte der Befragten, dass sie für mindestens zwei Jahre in Deutschland bleiben wollen, waren es zum Jahreswechsel 2023/24 schon 84 Prozent. Mit Sicherheit zurückkehren wollten in der späteren Umfrage lediglich ein Viertel, 2022 war es noch die Hälfte der Befragten. Drei der 19 Personen, mit denen Tetyana Panchenko ausführliche Tiefeninterviews geführt hat, sind bereits zurückgekehrt. Für zwei Frauen waren ihre in der Ukraine gebliebenen Männer ausschlaggebend. Eine alleinerziehende Mutter kehrte trotz des andauernden Krieges nach Charkiw zurück, weil ihre Tochter Probleme mit dem deutschen Schulsystem hatte und sich nicht gut integriert fühlte. „Es kommen immer viele Gründe zusammen“, erklärt Tetyana Panchenko die Vielschichtigkeit ihrer Interviewpartnerinnen und -partner. Die befragte alleinerziehende Mutter hatte auch das Gefühl, in der Ukraine nützlicher für ihr Land zu sein. „In dem Jahr seit ihrer Rückkehr hat sie Netze und spezielle Unterwäsche für die Armee genäht, Patronen bemalt, die auf Wohltätigkeitsauktionen verkauft wurden, und sogar darüber nachgedacht, der Armee beizutreten“, hat Tetyana Panchenko erfahren.
Für die Wissenschaftlerin ist die Frage der Rückkehr im Laufe ihrer Forschung immer wichtiger geworden. Hat sie sich zu Beginn in ihrem Projekt, das mit einer zweijährigen Stelle am ifo Institut in München begann, vor allem für die Fluchtgründe und die Integration in Deutschland interessiert, vertieft sie nun ihre Forschung zur Frage, wer aus welchen Gründen zurückkehrt oder sich eine Rückkehr vorstellen kann. „Wie kann die Ukraine ihr intellektuelles Kapital zurückgewinnen – das ist die entscheidende Frage für die Nachkriegszeit“, ist sie überzeugt. Es liege auf der Hand, dass die Zahl potenzieller Rückkehrer*innen immer kleiner werde, umso länger der Krieg dauert. Doch das „intellektuelle Kapital“ lasse sich auch in der Diaspora für die Ukraine nutzen, sagt Tetyana Panchenko. Sie nimmt seit Kurzem hier auch ein Umdenken in der ukrainischen Regierung wahr. Viele Geflüchtete – allein in Deutschland suchten sei Februar 2022 1,2 Millionen Ukrainer*innen Zuflucht – unterstützen ukrainische Familien und Freunde mit Geld, andere arbeiten in der Flüchtlingshilfe, organisieren Demonstrationen oder sorgen anderweitig dafür, dass die Aufmerksamkeit für die Situation in ihrem Heimatland nicht sinkt. Auf vielfältige Weise setzen sie ihre professionellen Kenntnisse ein: Eine Psychologin bietet von Deutschland aus Online-Beratungen für Patient*innen in der Ukraine an. Ein IT-Ingenieur hat Ideen für die Umsetzung gemeinsamer Projekte zwischen der Ukraine und Deutschland. Und ein Vater von vier Kindern, der derzeit eine duale Ausbildung im Bereich Logistik absolviert, denkt über soziale Projekte für Veteranen, Kinder gefallener Soldaten und Menschen aus besetzten Gebiete nach.
„Andere sehen ihren Auftrag einfach darin, die Verbundenheit mit der Ukraine hoch zu halten“, beschreibt Tetyana Panchenko eine weitere Beobachtung aus ihrer Forschung. Sie sprechen ukrainisch, feiern ukrainische Feste, lassen ihre Kinder – oft parallel zur deutschen Schule – online ukrainischen Unterricht verfolgen. „Die meisten behalten ihre ukrainische Identität“, schlussfolgert sie, auch wenn gerade Kinder als Grund angegeben werden, erstmal nicht zurückzukehren.
Gehen oder Bleiben? Auch persönlich für Tetyana Panchenko komplexe Frage
Eine Abwägung, die Tetyana Panchenko auch persönlich kennt. Für ihr KIU-Stipendium in Frankfurt (Oder) reiste sie aus einem österreichischen Dorf an, in dem sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern zu Hause ist. Bereits 2015 war die Familie – damals noch mit zwei Kindern – nach Deutschland gekommen. Ihr Mann habe die Welt sehen wollen und als hochqualifizierte Fachkraft die Möglichkeit gehabt, in der EU zu arbeiten. Tetyana Panchenko kam mit und unterrichtet seitdem bis heute aus der Ferne an ihrer Universität in Charkiw. Den festen Plan der Familie, nach fünf Jahren in die Ukraine zurückzukehren, machte erst die Corona-Pandemie, dann der Krieg zunichte. „Objektiv gesehen ist die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr gering“, sagt Tetyana Panchenko, wenn man sie danach fragt, ob sie gern wieder in Charkiw leben und arbeiten würde. Wenn es aber nur nach ihr ginge, würde sie gern wieder in die Ukraine gehen. Die schwierige Integration in den Arbeitsmarkt, der steinige Weg beim Deutschlernen, der große Druck bei der Erziehung der Kinder in zwei Sprachen und zwei Welten – was ihr die Interviewpartner*innen in ihrem Projekt erzählen – ist Tetyana Panchenko auch persönlich nicht fremd. „Für die Befragten waren die Gespräche mit mir manchmal auch wie eine Therapie“, beschreibt sie den besonderen Zugang, den sie gefunden hat.
Ein Blick in die dokumentierten Aussagen verdeutlicht, wie komplex die Fragen von Gehen oder Bleiben, Integration und Lebensperspektiven sind. Ein Teilnehmer der Umfragen wird Anfang 2024 mit den Sätzen zitiert: „Diese zwei Jahre waren die schwierigsten in meinem Leben. Aber ich habe große Pläne und Ziele. Auch wenn es sehr schwierig ist, habe ich das Bedürfnis weiterzukommen und hierzubleiben. Uns ist klar, dass wir uns dafür noch sehr viel mehr anstrengen müssen.“ Tetyana Panchenko wird die Lebenswege der Befragten weiterverfolgen. Gerade bemüht sie sich um eine Weiterfinanzierung ihrer Forschung.
Frauke Adesiyan
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